Unsere geschätzten Leser haben bestimmt schon einmal die Rubrik "Kennen Sie den noch?" studiert. Dort stellen wir Autos von früher vor, die inzwischen fast vergessen sind. Doch was ist mit den Modellen, die durchaus noch zahlreich im Straßenverkehr umherfahren? Jene Typen, die jeder kennt, die schon deutlich über 20 Jahre, teilweise aber auch viel weniger auf dem Buckel haben.
Werden sie einmal Oldtimer? Das birgt Zündstoff für kontroverse Diskussionen. Einige dieser Modelle wollen wir in unserer Reihe "Klassiker der Zukunft?" vorstellen.
Erst kürzlich hatten wir das Thema im Kreise der Kollegen: War (respektive zum Glück noch "ist") Lancia eine italienische Variante von Saab? Beides Marken für automobile Individualisten mit Hang zum Luxus. Und beide verabschiedeten sich (wie auch Rover beim 75) mit einem Oberklasse-Highlight von der ganz großen Bühne. Saab mit dem letzten 9-5, Lancia mit dem Thesis.
Nicht einmal 16.000 Exemplare entstanden zwischen 2002 und 2009 von der 4,89 Meter langen Limousine, benannt nach dem griechischen Wort "Thesis" (bitte mit englischem th aussprechen!), der Herkunft unseres Wortes "These". Offenbar hatte auch Lancia seine Spitzenmodell als Statement gedacht, das in Deutschland aber nur 1.630 Käufer begriffen. Schon deshalb ist der Thesis ein sicherer Oldtimer-Tipp.
Der Lancia Thesis begann als "Projekt 841" im Jahr 1997 und wurde mehrfach sowohl von der Geschäftsleitung als auch vom Chefdesigner selbst, Mike Robinson, diskutiert. Fest stand nur, dass er den glücklosen Kappa (kurz k) ablösen sollte.
Damals wurden im Mirafiori Style Centre drei Konzeptfahrzeuge vorgestellt: Tikal, Agorà und Arca, von denen nur eines von den Mitarbeitern durch eine interne Umfrage für die spätere Entwicklung und Serienfertigung ausgewählt wurde.
Der siegreiche Agorà erhielt ein modifiziertes Styling, da er ursprünglich ein großes Schrägheck war, das von den ersten Limousinen des Unternehmens in den 1930er-Jahren inspiriert war. Später wurde er in Lancia Dialogos umbenannt und als seriennaher Prototyp mit gegenläufig öffnenden Türen öffentlich gezeigt.
Der Dialogos wurde von der Führungsspitze des Fiat-Konzerns sehr geschätzt und im Jahr 2000 wurde auch eine Version für Johannes Paul II. abgeleitet, die den Namen Giubileo erhielt. Zum Design des fertigen Thesis, der 2002 auf den Markt kam, sagte der Chefdesigner von Lancia: "Die Leute werden nach Ausreden suchen, um dieses Auto nicht zu kaufen. Wir wollen also verdammt sicher sein, dass wir ihnen keine Gründe dafür geben."
Zu diesem Zweck sollte das Auto die Substanz des Audi A6 und der Mercedes E-Klasse erreichen. Er war mit mehr Technik und mehr Stil ausgestattet. Um die Käufer zu überzeugen, war er auch preislich um 15 Prozent günstiger als die Konkurrenz.
An dieser Stelle schrieben wir anno 2007 über den Thesis: "Ein Charakterdarsteller für Genussmenschen, die nicht nach Perfektion streben." Und weiter: "Trotz der eigentlich konservativen Stufenheck-Optik hebt sich der Thesis dank eigenwilliger Details vom Oberklasse-Einerlei wohltuend ab. Reizvoll und repräsentativ sind zum Beispiel seine schmalen Heckleuchtenstreifen hinter vornehmem Milchglas. Auch die edelsteinartig geformten Frontscheinwerfer, der mächtige Chromkühlergrill sowie seine insgesamt sehr ruhigen Linien verleihen ihm Noblesse als auch kühle Fremdartigkeit."
Mit Blick auf den Innenraum hieß es: "Holz, Leder, hochwertig wirkende Kunststoffe und Metall schaffen diese für Lancia so charakteristische Atmosphäre, die auch im Thesis irgendwo zwischen sehr geschmackvoll und leicht schwülstig rangiert. Zu den sehenswerten Besonderheiten gehören der schicke Armaturenträger oder die über die Cockpitbreite verlaufende Holzleiste aus naturbelassenem Mahagoni."
Lancia investierte viel in den Thesis, und im Gegensatz zum Vorgänger Kappa, der sich eine Plattform mit dem Alfa Romeo 166 teilte, wurde für den Thesis ein eigenes Chassis konstruiert. Das Auto war mit einer komplizierten Mehrlenker-Aluminium-Aufhängung an beiden Achsen ausgestattet, ergänzt durch adaptive Dämpfer von Mannesmann Sachs namens "Skyhook", die auch im Maserati Spyder verwendet wurden. Er war auch der erste Lancia mit einem adaptiven Radar-Tempomat (von Bosch).
Paul Horrell, damals bei der britischen Zeitschrift CAR, schrieb 2002, dass der Thesis "weitaus präziser und sogar agiler ist, als er es sein darf." Horrell war der Ansicht, dass der Thesis ein würdiger Ausdruck der Markenwerte von Lancia war. "Stellen Sie sich einen Rover 95 vor und Sie wären gespenstisch nah dran. Es ist ein beängstigender Gedanke: zwei Marken, die sich weigern, jugendlich oder sportlich zu sein, zwei Marken, die unterdurchschnittliche Leistungen erbracht haben."
Andere Journalisten meinten, dass das Auto ein gutes Produkt im falschen Markt war. Nach ihrer Ansicht wäre es besser gewesen, ein Fahrzeug in der Preisklasse des Ford Mondeo anzubieten, anstatt in der konservativeren oberen Mittelklasse, die schon damals von der Mercedes E-Klasse, dem Audi A6 und der BMW 5er-Reihe dominiert wurde.
An der Motorenpalette des Lancia Thesis lag es nicht, sie war im Nachhinein betrachtet für solch ein seltenes Auto erstaunlich üppig. Als Getriebe standen sechs manuelle Gänge oder eine Fünfstufen-Automatik bereit. Sehen wir uns die Motoren in der Übersicht an:
Lancia Thesis | Zylinder | Hubraum | Kraftstoff | Leistung | Bauzeit |
2.0 Turbo | 5 in Reihe | 1.998 ccm | Benzin | 136 kW (185 PS) | 3/2002 - 9/2007 |
2.4 20V | 5 in Reihe | 2.446 ccm | Benzin | 125 kW (170 PS) | 3/2002 - 9/2007 |
3.0 V6 24V | 6 in V-Form | 3.179 ccm | Benzin | 158 kW (215 PS) | 3/2002 - 5/2003 |
3.2 V6 24V | 6 in V-Form | 3.179 ccm | Benzin | 169 kW (230 PS) | 5/2003 - 9/2007 |
2.4 10V JTD | 5 in Reihe | 2.387 ccm | Diesel | 110 kW (150 PS) | 3/2002 - 12/2005 |
2.4 20V Multijet | 5 in Reihe | 2.387 ccm | Diesel | 129 kW (175 PS) | 5/2003 - 3/2006 |
2.4 20V Multijet | 5 in Reihe | 2.387 ccm | Diesel | 136 kW (185 PS) | 4/2006 - 6/2009 |
Auch gepanzert in den Stufen B4 und B6 gab es den Lancia Thesis. Genauso hat man ihn außerhalb Italiens überhaupt einmal zu Gesicht bekommen, nämlich als Limousine des italienischen Staatspräsidenten.
Wir urteilten wir damals über den Thesis? "Das sehenswerte Luxusauto sticht in wohltuender Weise aus dem Einheitsbrei der Business-Limousinen heraus, ist großzügig und geschmackvoll ausgestattet. Doch kann der schicke Italiener technisch nicht das Perfektionsniveau einer Mercedes E-Klasse bieten. Letztlich fährt der Thesis der deutschen Premium-Konkurrenz hinterher. Immerhin ist er preislich gut aufgestellt, relativiert dies jedoch durch einen schlechten Wiederverkaufswert."
Wiederverkaufswert? Rund 12 Jahre nach dem Ende der Thesis-Produktion ist es für Youngtimer-Freunde gar nicht so leicht, überhaupt einen aufzutreiben. Lediglich 18 Fahrzeige weist ein einschlägiges Gebrauchtwagen-Portal auf dem deutschen Markt aus, das teuerste Angebot notiert bei 7.000 Euro. Grundpreis des 185-PS-Diesels anno 2007: 48.990 Euro. Hätten doch damals bloß mehr Leute zu Lancia, Saab und Co. gegriffen ...