Frankreich, Mitte der 1940er-Jahre: Das Land steht vor dem wirtschaftlichen Neuanfang. Es fehlt an allem: Arbeitskräften, Rohstoffen, Geld. Auch Renault bleibt von den Kriegsfolgen nicht verschont. Das Stammwerk Billancourt liegt in Trümmern, und der französische Staat als neuer Eigentümer will das Unternehmen nur als reinen Nutzfahrzeugproduzenten weiterleben lassen.

Doch der von der Regierung eingesetzte Firmenpräsident Pierre Lefaucheux verfolgt andere Pläne: Ein Kleinwagen, zu niedrigen Kosten in Massenproduktion gefertigt, soll das Land motorisieren und Renault erneut als Hersteller von Personenwagen etablieren.

Das geeignete Fahrzeug hat Renault bereits in der Hinterhand: den Prototypen eines während des Zweiten Weltkriegs in aller Heimlichkeit konstruierten Heckmotormodells. Lefaucheux lässt das 4 CV (vier französische Steuer-PS, analog auch der Citroën 2 CV) getaufte Automobil weiterentwickeln und stellt es im Oktober 1946 auf dem Pariser Automobilsalon aus.

75 Jahre Renault 4CV
Der erste Prototyp des Renault 4 CV

Dabei beginnt die Karriere des 4CV alles andere als verheißungsvoll. Als 1942 der erste Prototyp entsteht, tobt der Zweite Weltkrieg. Das Renault-Werk Billancourt steht unter deutscher Zwangsverwaltung, und die Besatzer untersagen jegliche Neuentwicklung.

Louis Renault, der bereits an die Nachkriegszeit denkt, lässt den Wagen trotzdem heimlich weiterbauen. Der Patron plant einen Wagen, der mit niedrigen Kosten und in großer Serie hergestellt werden kann. Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit sollen Vorrang haben.

Der erste 4 CV hat nur zwei Türen. Seine rundliche Fronthaube ähnelt stark derjenigen des deutschen Volkswagens. Wie bei diesem sitzt auch beim Renault der Motor hinten. Allerdings ist er wassergekühlt, und es handelt sich um einen Reihenvierzylinder mit knapp 750 Kubikzentimetern Hubraum. Mit einer Kriegsmischung aus Benzin und Alkohol entwickelt das Triebwerk 19,2 PS bei 4.500 U/min. Das niedrige Fahrzeuggewicht von gerade einmal 442 Kilogramm ermöglicht damit glänzende Verbrauchswerte.

75 Jahre Renault 4CV

Bereits der zweite Prototyp vom Februar 1944 verfügt über die typischen, lang gezogenen Kotflügel mit integrierten Scheinwerfern. Auch der Vorbau ist flacher und erinnert damit bereits an die spätere Serienversion. Allerdings ist auch dieser Versuchsträger noch als Zweitürer konzipiert.

Als am 27. September 1944 der französische Staat die Leitung von Renault übernimmt, steht das Projekt 4 CV auf der Kippe. Das Ministerium für Industrieproduktion will das Unternehmen zum reinen Lkw-Produzenten umwandeln. Dem neuen Renault-Vorstandsvorsitzenden Pierre Lefaucheux gelingt es unter Aufbietung seines beträchtlichen Durchsetzungsvermögens, diesen Plan abzuwenden.

Auch intern muss Lefaucheux kämpfen. Grund ist der 4 CV. Seine Kollegen von der Unternehmensleitung würden lieber die parallel zu dem Kleinwagen entwickelte Limousine 11 CV bauen. Ihr Argument: Es ist leichter, mit einem großen Fahrzeug Geld zu verdienen, als mit einem kleinen. Lefaucheux denkt jedoch weiter: Ein Großserien-Fahrzeug für breite Käuferschichten würde mehr Impulse zur Genesung von Renault leisten als eine exklusive Kleinserie für begüterte Kunden.

Um den Kritikern ein Stück weit entgegenzukommen, spricht er sich für den 4 CV als Viertürer aus, was sich als sehr mutige und visionäre Entscheidung herausstellen soll. Umgehend organisiert der energische Lefaucheux Devisen und lässt 29 neue Fertigungsstraßen mit einer Gesamtlänge von zwei Kilometern installieren.

Am 3. Oktober 1946 ist es so weit: Der 4 CV feiert auf dem ersten Pariser Automobilsalon nach dem Krieg seine Publikumspremiere. Die Öffentlichkeit reagiert zunächst etwas irritiert auf das Modell, das so anders ist als alles, wofür Renault vor 1940 stand: Luxus und Eleganz. Wegen seines blassgelben Lacks taufen ihn die Franzosen spontan "La Motte de Beurre" (kleiner Butterklumpen). Dies übersetzt der deutsche Volksmund später in "Cremeschnittchen".

Beide Namen beziehen sich auf die eigenwillige cremegelbe Lackierung des Ausstellungswagens. Hinter der Farbwahl steckt Kalkül: Die Vorserienwagen sollen als bunte Farbkleckse im schwarzen Autoeinerlei auf den Straßen von Paris ins Auge stechen.

75 Jahre Renault 4CV

Dabei hilft der Zufall: Das Unternehmen besitzt noch Lackvorräte des deutschen Afrikakorps, für das Renault in der Besatzungszeit Lastwagen bauen musste. Der Inhalt der Fässer wird zusammengemixt und daraus eine neue Farbnote kreiert.

Oft wird übrigens kolportiert, dass Ferdinand Porsche während seiner französischen Kriegsgefangenschaft am 4 CV mitgearbeitet hat. Tatsächlich lud Marcel Paul, kommunistischer Minister für Industrieproduktion Porsche damals im Jahr 1946 ein, seine Meinung über den zukünftigen Renault 4 CV abzugeben.

Dennoch war Pierre Lefaucheux wütend über diese Initiative und brachte sehr schnell seinen Unmut gegenüber dem Premierminister zum Ausdruck: "Ich habe zugestimmt, Professor Porsche ein Dossier über den 4 CV zu geben, wir sind gerade dabei, die Werkzeuge auszuführen. Wir werden natürlich alle Bemerkungen mit größter Aufmerksamkeit studieren, [...] aber es versteht sich von selbst, dass wir das alleinige Urteil darüber behalten, ob es ratsam ist, seinen Vorschlägen zu folgen oder nicht".

Der Minister bestand darauf, dass neun Treffen stattfinden werden, aber die Intervention sollte keinen Einfluss auf den 4CV haben. "Wir glauben, dass der 4CV in einem Jahr in Serie gehen kann", sagte Porsche den Vertretern des Ministers.

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Oktober 1947: Erneut findet in Paris der Automobilsalon statt. Diesmal dürfen die Besucher den knuffigen Neuling nicht nur bestaunen, sondern auch ausprobieren. Pünktlich zum Beginn des Salons liefert Renault die ersten Serienmodelle an 300 Händler aus. 

Mit nur 3,66 Metern ist der 4 CV fast auf den Zentimeter kaum länger wie ein aktueller Renault Twingo. Fahrer und Beifahrer entern den Kleinwagen über hinten angeschlagene Türen. Der durchgehend flache Fahrzeugboden ohne störende Kardanwelle ermöglicht die optimale Raumausnutzung. Resultat: Auch die Fondpassagiere sitzen bequem.

Frische Luft gelangt durch Schiebefenster ins Wageninnere. Diese Lösung ermöglicht mehr Ellenbogenfreiheit und spart Kosten. Die knopfartigen Pedale ragen wie kleine Pilze aus dem Boden, und zum Verstauen von Kleinigkeiten steht in der Basisvariante ein winziges offenes Handschuhfach zur Verfügung. Spätere Varianten verfügen auch über Taschen in den Türverkleidungen. Geschwindigkeit und Benzinstand lassen sich von einem Zentralinstrument ablesen.

In der Serienversion leistet der auf 760 Kubikzentimeter Hubraum vergrößerte Heckmotor 17 PS. Die Luftzufuhr für den wassergekühlten Vierzylinder gelangt durch schmale Einlässe an den hinteren Kotflügeln in den Motorraum. Die Kraftübertragung an die Hinterachse erfolgt über ein robustes Dreigang-Getriebe. Mit seinen 90 km/h Spitze ist der Urahn aller Renault-Kleinwagen zwar nicht der Schnellste, dafür kann sich der Verbrauch von sechs Litern pro 100 Kilometer sehen lassen.

Der Name 4 CV bezeichnet die so genannten Steuer-PS. Diese Einheit, die in Frankreich bis November 2000 galt, wird nach einer Formel berechnet, in der neben der Leistung auch die Zylinderzahl und die Hubhöhe des Kolbens einfließen. Im Falle des neuen Renault macht dies "quatre Chevaux" (vier Pferdestärken), umgangssprachlich "Katschewo".

Das Konzept überzeugt. Die Lieferfristen klettern unaufhörlich, erst auf ein Jahr, dann auf 18 Monate, schließlich auf zwei Jahre. Im April 1949 erreicht die 4 CV-Produktion 300 Fahrzeuge am Tag, im Juni 1950 sind es bereits 500.

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Der Erfolg übertrifft alle Erwartungen. Bald schon muss der erst 1951 eingeweihte Standort Flins das Stammwerk Billancourt bei der Fertigung unterstützen. Am 8. April 1954 feiert Renault im überfüllten Palais de Chaillot am Eiffelturm den 500.000sten "Katschewo".

Mittlerweile wurde die 4 CV-Palette um mehrere Varianten erweitert: Die Ausführung "Luxe" von 1949 weist unter anderem verchromte Motorhaubenscharniere und Ausstellfenster vorn auf. Der im selben Jahr erscheinende 4 CV "Décapotable" verfügt über ein großes Faltdach. Die Version "Grand Luxe" von 1950 wird von der 21-PS-Maschine angetrieben und bietet eine Velours-Ausstattung.

1952 erscheint die Nutzfahrzeugvariante "Commerciale" ohne Rücksitze und mit verblechtem Fond, ein Jahr später legt Renault als neues preiswertes Einstiegsmodell den 4 CV "Affaires" auf. Der Basis-4 CV zeichnet sich durch das Fehlen nahezu aller Komfortdetails aus. Fahrer und Beifahrer nehmen auf dünn bespannten Sitzen im Stil von Gartenmöbeln Platz.

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Ebenfalls 1953 rückt der Hersteller bei allen 4 CV-Varianten die Fondbank nach hinten und schafft so noch mehr Platz im Innenraum. Außerdem wird die Batterie vom Kofferabteil in den Motorraum verlagert, so dass mehr Platz fürs Gepäck zur Verfügung steht.

Um den Absatz des Kleinwagens weiter zu beschleunigen und einer breiteren Käuferschicht den Erwerb eines Autos zu ermöglichen, führt Renault 1954 eine revolutionäre Finanzierungsformel für den Autokauf ein, den "4 CV Sparkredit". Das System erlaubt dem Kunden, seinen Wagen in 25 Monatsraten abzuzahlen, aber bereits vom neunten Monat an offiziell in Besitz zu nehmen. Um für den Sparkredit zu werben, lässt Renault den "Katschewo" an einem Hubschrauber hängend über Paris schweben. So erhält der kleine Franzose auch noch seine Lufttaufe.

Auch die seriennahe Motorsport-Szene wird schnell auf die Vorzüge des kleinen Renault aufmerksam. Die Kombination aus niedrigem Gewicht, kompakten Abmessungen und guter Traktion prädestinieren ihn für den Renneinsatz. Bei der Rallye Monte Carlo 1949, den 24 Stunden von Le Mans 1951 und der Mille Miglia 1952 gelingt dem 4 CV jeweils ein Klassensieg. Zu den Piloten zählt unter anderem Jean Rédélé.

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Der Renault-Händler aus Dieppe an der Kanalküste macht das Renault Modell schon bald zur technischen Basis für seine eigenen Sportwagen, die unter dem Markennamen "Alpine" rund um die Welt für Furore sorgen werden.

Als Grundlage dienen Rédélé Motor und Chassis des Renault 4 CV 1063. Das Sportmodell mobilisiert 32 PS. Der per Doppelvergaser frisierte Motor macht das Auto 130 km/h schnell. Die Kraftübertragung auf die Hinterräder erfolgt wahlweise über ein Vier- oder Fünfgang-Schaltgetriebe. 1955 kommt der Flitzer auch offiziell in den Handel.

Die halb geöffnete Motorhaube der Renn-"Katschewo" kommt auch bei den Normalfahrern in Mode. So sehr, dass Renault schließlich in Presseanzeigen öffentlich erklären muss, dass die Kühlung der Serienmodelle auch bei geschlossenem Heckdeckel uneingeschränkt funktioniert: "Warum den Deckel lüften? Finden Sie das schön?".

Fahrer des deutschen VW machen sich die wirkungsvollen Kühlluftschlitze zu nutze und schweißen sie als komplette Blechtafeln in die Motorhaube des Käfers.

Ebenso wie die sportlichen Erfolge steigern die regelmäßigen Auftritte beim Radrennen "Tour de France" die Popularität des 4 CV. Der Heckmotorflitzer gehört hier seit 1948 als offizieller Begleitwagen quasi zum Inventar.

Nicht allein die Franzosen erliegen dem Charme des "Cremeschnittchens": Rund 20 Prozent der Gesamtfertigung gehen in den Export. Bald rollt der Kleinwagen auch im britischen Acton und im belgischen Haren vom Band. 1953 startet der Lizenzbau für den spanischen Markt in Valladolid. Hier wird der 4 CV unter dem Namen Renault 4/4 vermarktet.

Im gleichen Jahr beginnt auch der japanische Nutzfahrzeughersteller Hino Diesel mit der Lizenzfertigung des kompakten Renault. Vor allem als Taxi macht der in zehn Jahren über 50.000-mal gebaute 4 CV Hino in der Folgezeit Karriere. Wermutstropfen für Renault: Bereits nach wenigen Jahren verweigert Hino die Zahlung der Lizenzgebühren und produziert den leicht modifizierten Wagen fortan selbstständig.

Sogar in den USA findet das "Cremeschnittchen" Freunde: Die Kunden sind zumeist ehemalige Soldaten, die den Kleinwagen während ihres Dienstes in Europa kennen und schätzen lernten. Bis zu 3.200 Bestellungen pro Monat gelangen Anfang der 1950er-Jahre aus den Vereinigten Staaten nach Billancourt.

Renault ist zunächst außer Stande, die Nachfrage zu erfüllen. Als das Unternehmen jedoch 1956 die neue Dauphine auf den amerikanischen Markt schickt, profitiert auch der 4 CV: 3.500 Einheiten des Kleinwagens gelangen in jenem Jahr über den Atlantik. Bis 1959 steigt die Zahl auf 15.000 Fahrzeuge im Jahr.

1957 erscheint ein überarbeiteter "Katschewo" bei den Händlern. Der auf 747 Kubikzentimeter Hubraum reduzierte Heckmotor leistet jetzt auch in der Basisversion 21 PS und ermöglicht es dem Kleinwagen, die 100-km/h-Marke zu knacken.

Noch einmal bietet das "Cremeschnittchen" anno 1958 Anlass zum Feiern: Am Jahresende rollt das einmillionste Exemplar vom Montageband. Damit ist der 4 CV das erste Modell der Marke, das diese magische Zahl erreicht. Fast zeitgleich baut Renault die 500.000ste Dauphine, die neue Nummer eins des Konzerns.

Das Ende der 4 CV-Ära ist fließend: Renault fährt die Produktion seines langjährigen Bestsellers in aller Ruhe herunter. Pünktlich zu Beginn der Werksferien kommt am 6. Juli 1961 nach insgesamt 1.105.543 Fahrzeugen das Aus.

Nur einen Monat später startet die Fertigung des Nachfolgers. Er wird ebenfalls zur automobilen Legende und erweist sich damit als würdiger Erbe. Sein Name: Renault 4.

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