Heute denken wir beim Namen Amazon natürlich sofort an Online-Versandhandel. Doch vor über 60 Jahren war das noch anders: Der Volvo Amazon zählt heute zu den populärsten Oldtimern der Marke. Und das, obwohl er in Deutschland offiziell nie so heißen durfte.

Der längst vergessene Zweiradhersteller Kreidler hatte nämlich ein Moped namens Amazone im Programm. Und so wurde der Nachfolger des Volvo PV 544 außerhalb Skandinaviens meist zur profanen Serie 120, 130 oder 220. Am Mythos dieses Autos ändert das natürlich nichts: Hier gab es zum ersten Mal überhaupt Sicherheitsgurte vorne serienmäßig. 

Jetzt darf ich zum ersten Mal einen Volvo Amazon fahren. Und das Schlagwort mit dem "Schweden-Stahl" scheint tatsächlich zu stimmen: Die tresorartige Fahrertür meiner zweitürigen Limousine schließt solide, auch nach 50 Jahren. 

Vor mir ein Armaturenbrett (immerhin schon gepolstert) mitsamt riesigem, geschüsselten Lenkrad. Alle Schalter und Knöpfe sind schwedisch beschriftet. Na prima. Meine Kenntnisse von Schweden begrenzen sich auf Saab, Volvo, Ikea, ABBA und Königin Silvia. Immerhin sind es nur wenige Knöpfe, heutzutage würden sie in einer Lenkradspeiche Platz finden. (Sie wissen ja: Tasten sind bei neuen Autos Teufelszeug...)

Volvo Amazon P130

Geben Sie mir also ein wenig Zeit (Aha, "Ljus" bedeutet offenbar "Licht"), während ich Sie mit der Historie des Amazon vertraut mache: 1956 erfolgte die Vorstellung, 1957 begann die Serienfertigung. Benannt wurde der Volvo nach Kriegerinnen der griechischen Mythologie.

Der über Jahrzehnte für viele Volvo-Modelle stilprägende Chefdesigner Jan Wilsgaard entschied sich bei einem seiner ersten Fahrzeuge für eine "langlebige" Linienführung mit markantem Kühlergrill und langer Motorhaube, die gemeinsam mit den serienmäßigen Weißwandreifen und einer Zweifarblackierung zur markanten Optik der 4,45 Meter langen Limousine beitrug.

Zum ursprünglichen Viertürer gesellte sich in den folgenden Jahren ein Kombi und ein Zweitürer, der als letzter Amazon bis zum 3. Juli 1970 vom Band lief. Insgesamt wurden in dreizehn Jahren über 667.000 Fahrzeuge der Baureihe hergestellt – für das schwedische Unternehmen auch ein wirtschaftlicher Erfolg.

Volvo Amazon P130

Jenseits von Schweden wurde der Amazon auch populär in den USA. Gefertigt im schwedischen Stammwerk Torslanda und als erster Volvo in Nordamerika im kanadischen Werk Halifax, überzeugten alle Modellvarianten mit einer tadellosen Verarbeitung und großzügigen Platzverhältnissen.

Die vorderen Einzelsitze boten zudem einen hohen Langstreckenkomfort; der ab August 1959 serienmäßige Dreipunktgurt erhöhte die Sicherheit und rettete Leben bei einem Crash. Zum hohen Sicherheitsniveau trugen in späteren Auflagen auch Zweikreis-Bremsanlagen und Scheibenbremsen sowie Kopfstützen bei.

Zur Technik: Einzelradaufhängung an trapezförmigen Dreieckslenkern vorne und eine Starrachse mit Längslenkern hinten jeweils mit hydraulischen Teleskop-Stoßdämpfern. Unter der Motorhaube steckte anfangs ein 1,6-Liter-Vierzylinder mit 44 kW (60 PS), der in der Sportvariante Amazon S respektive 122 S dank zwei SU-Vergasern bis zu 61 kW (83 PS) und eine Höchstgeschwindigkeit von 155 km/h entwickelte.

Volvo Amazon P130

Im Herbst 1961 wurde der 1,6-Liter-Motor des Volvo P120 durch den modernen B18-Motor ersetzt. Dieser entwickelte eine Leistung von 55 kW (75 PS) bis zu 70 kW (95 PS). Beim Volvo 122 S gehörten Scheibenbremsen vorn zum Serienumfang, ab 1964 waren diese für alle Leistungsstufen verfügbar.

Anstelle der 6-Volt-Anlage kam im gleichen Jahr die neue 12-Volt-Anlage zum Einsatz. Im Jahr 1968 wurde das Triebwerksangebot durch den 2,0-Liter-Motor "B20" ergänzt.

Für die Kraftübertragung standen bis zu drei Schaltgetriebe zur Wahl, die später um automatisierte Varianten ergänzt wurden. Auch bei den Antrieben gab es fortan leistungsstärkere 2,0-Liter-Motoren mit bis zu 76 kW (103 PS).

Da wir gerade bei Zahlen sind: Interne Codebezeichnungen waren Volvo P1200 (1956-1958), P121 und P122 (1958-1959) und P120 (ab 1960) bzw. P130 (Zweitürer, ab 1961) und P220 (Kombi, ab 1962). P122 S und P123 GT waren die stärksten Ausführungen.

Volvo PV444 (hinten) und Volvo 122 Amazon (vorne,1959)
Volvo PV444 (hinten) und Volvo 122 Amazon (vorne,1959)

In Serie ging die Baureihe als viertürige Limousine im Jahr 1957. Ursprünglich sollte das Modell oberhalb des Volvo PV444/544 platziert werden. Deshalb war der Volvo Amazon anfangs nur als Viertürer lieferbar. Allerdings blieb der Radstand mit 2,60 Metern gegenüber dem Volvo PV444/544 unverändert.

Ab 1961 ergänzte eine zweitürige Limousine (Volvo P130) die Amazon-Baureihe, ab 1962 wurde sie von einer Kombiversion (Volvo P220) komplettiert. Der viertürige Amazon wurde bis zum Herbst 1966 gebaut und dann von dem neuen Volvo 144 abgelöst.

Während die viertürige Limousine bis 1966 und der Kombi bis 1969 gebaut wurden, blieb der Volvo Amazon Zweitürer bis 1970 im Angebot. 

Volvo P220 Amazon (1968)
Volvo P220 Amazon (1968)

Sind Sie noch da? Gut, es kann nämlich losgehen, ohne dass ich "meinen" Amazon versehentlich in die Luft jage. Wobei: Vermutlich würde er selbst danach noch anspringen, so massiv wirkt er. Doch beim Fahren verliert der Volvo jedwede Panzer-Attitüde. Unter der Haube steckt der B20-Motor mit 82 PS Leistung. 

Mittels eines ellenlangen Schalthebels im Lkw-Stil lege ich den ersten Gang ein. Behutsam natürlich, denn allzu exakt ist das Viergang-Getriebe nicht. Netterweise ist der Motor von bulligem Charakter und erlaubt mir auch das Anfahren im zweiten Gang.

Volvo Amazon P130

Das erleichtert mir die Arbeit am dünnen, großen Lenkrad (wie damals üblich, ersetzte das XXL-Format quasi die Servolenkung) und ich genieße die Laufruhe des Amazon. Erst nachdem der Bandtacho über die 120 km/h gewandert ist, dröhnt es an mein Ohr. Zum Ausgleich lassen mich bequeme Sitze und die komfortable, aber nicht zu weiche Federung spontan über eine Fahrt bis nach Schweden sinnieren.

Diskussionen, ob Volvo seine Autos bei 180 km/h abregelt, hätten Amazon-Besitzer wohl nur mit einem müden Lächeln quittiert. Erst einmal überhaupt 180 schaffen! Selbst das heute gesuchte Topmodell, der 123 GT, erreichte seinerzeit "nur" 170 km/h. Allerdings galt um 1970 herum noch Tempo 200 als unglaubliche Schallmauer.

Nein, der Volvo Amazon ist nichts für Raser. Wohl aber für Altblech-Liebhaber, die nostalgisch angehauchte Optik mit relativ modernem und alltagstauglichem Fahrverhalten suchen. Hinzu kommt solide Technik plus eine gute Ersatzteillage. Rost ist natürlich ein Thema, aber nicht in dem Ausmaß anderer Autos aus jener Zeit. Gute Exemplare mit TÜV liegen um 15.000 Euro. 

Bildergalerie: Volvo Amazon P130