Irgendwo im Allgäu: Der kleine Junge am Straßenrand kann kaum glauben, was da gerade lautstark an ihm vorbeirollt. Angesichts des sehr eckigen und sehr roten Autos entfährt ihm ein spontanes ,Boah!". Es handelt sich um einen Seat 124 D Especial 2000 aus dem Jahr 1979, mit dem wir bei der Oldtimerrallye Bodensee-Klassik 2013 unterwegs sind. Überhaupt kommt der flotte Spanier bei Kindern gut an – würden sie ein Auto malen, käme wahrscheinlich sein Schachtel-Design dabei heraus. Deutlich mehr Fragen wirft der Seat bei den Erwachsenen auf: Irgendwo zwischen Fiat und Lada schwanken die Einschätzungen, ehe die spanischen Nummernschilder und die nachträglich angebrachten Seat-Aufkleber für Aufklärung sorgen.
Seltener Spanier
Aber man kann den Zuschauern der Bodensee-Klassik keine Vorwürfe machen, schließlich ist Seat erst seit 1983, also exakt 30 Jahren, in Deutschland aktiv. Auch deshalb ist die Historie der eigentlich viel älteren Marke hierzulande kaum bekannt. Um das zu ändern, hat ,Coches Historicos", die Seat-Oldtimersparte unter Leitung von Isidre Lopez Badenas, einen echten Leckerbissen mitgebracht. Unser 124 D Especial 2000 wurde in den Jahren 1979 und 1980 lediglich 829-mal gebaut. 114 PS machten die Limousine damals zum spanischen Pendant des BMW 02. Ähnlich wie bei dem Bayer herrscht auch im Seat diskrete Sportlichkeit. Außen fallen die aus heutiger Sicht winzigen 13-Zoll-Räder auf, innen erwartet uns ein gediegenes Ambiente sowie eine sagenhafte Übersicht. Große, plane Scheiben ermöglichen den freien Blick auf die Enden des gerade einmal 4,04 Meter langen Viertürers. Jawohl: Knapp über vier Meter waren zur Entstehungszeit des 124 noch Mittelklasse-Format. Das merkt man im Fond, wo es zwar eine sofaähnliche Bank, aber eher mäßige Beinfreiheit gibt. Das Cockpit ist im Telegramm-Stil gehalten: Zwei Rundinstrumente. Stopp. Vier Kippschalter. Stopp. Drei filigrane Lenkstockhebel. Stopp. Und schließlich ein ellenlanger Schaltstock zwischen den Vordersitzen, mit dem man aber fünf Gänge anwählen kann. Höchste Zeit, den Vierzylinder zu starten. Natürlich nicht per Keyless-Go oder derartigem Schnickschnack, sondern mit einem niedlichen Schlüssel wie von einem Fahrradschloss. Mit sonorem Klang erwacht die 114 PS starke Maschine zum Leben, nach einiger Zeit verfällt sie in einem stabilen Leerlauf. Nun noch die Füße an die relativ enge Pedalerie gewöhnt und es kann losgehen. Mehr als 500 Kilometer, verteilt auf drei Tage, liegen vor uns. Zum Glück auch diverse Tunnel: Dort macht es besonders viel Freude, den unter Last beinahe V8-artigen Sound auskosten.
Fiat macht mobil
Die langen Etappen bieten reichlich Gelegenheit, die spannende Geschichte des Seat 124, der eigentlich ein Fiat ist, zu reflektieren. Bereits 1919 gründet Fiat eine Niederlassung in Spanien, unter dem Namen Fiat-Hispanias werden in den 1930er-Jahren einige Autos lokal gefertigt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg startet die iberische Autoproduktion im großen Stil. Diktator Franco will sein Volk mobil machen. Eine der Bedingungen: 90 Prozent der Fahrzeugteile müssen aus lokaler Fertigung kommen. Auch bei VW klopfen die Spanier an, doch zu dieser Ehe kommt es erst Jahrzehnte später. In Fiat wird schließlich ein potenter Partner gefunden, 1950 entsteht die ,Sociedad Espanola de Automoviles de Turismo", kurz Seat. Drei Jahre später starten die Fließbänder in Barcelona mit der stattlichen Limousine 1400. Zum wahren Volkswagen Spaniens wird aber zwischen 1957 und 1973 der kleine Seat 600. Im Jahr 1968 schließlich rollt der erste 124 vom Band, dem kurze Zeit später eine besondere Ehre zuteil wird: Eine der Limousinen ist der einmillionste gebaute Seat.
Debüt in den Sechzigern
Die beinahe unendliche Geschichte des 124 beginnt im April 1966, als der Fiat 124 debütiert. Seinerzeit sind die Italiener eine richtig große Nummer im Autogeschäft. Dank eines sachlich-modernen Designs und technischen Highlights wie Scheibenbremsen rundum wird das Stufenheck-Modell, zu dem sich bald ein Kombi gesellt, zum ,Auto des Jahres" 1967 gewählt. Die Kunden greifen gerne zu, schließlich sind 60 PS samt guter Ausstattung für anfangs 6.500 Mark ein faires Angebot. Das kommt sogar in Deutschland an, allein 1969 werden hierzulande gut 42.000 Fiat 124 an den Mann und die Frau gebracht. Für Aufsehen sorgen damals die technisch gleichen, aber optisch völlig unterschiedlichen Coupé- und Roadsterversionen des 124. Obwohl sie in deutlich geringerer Stückzahl entstehen, sind sie heutzutage die bekanntesten Fiat 124. Bis 1975 rollt die Limousine in Italien vom Band, in ihrer stärksten Version, dem ST 1600, arbeiten 95 PS unter der eckigen Haube.
Rallye-Schreck von Seat
Zu dieser Zeit hat sich der spanische Bruder schon deutlich emanzipiert: Optische Änderungen machen ihn ab 1972 zum 124 D und fit für den Export. Zwischen 1972 und 1974 ist er das meistverkaufte Auto in Griechenland, wenngleich auf dem Kühlergrill noch immer diskret ,Licencia Fiat" vermerkt ist. Seat verpasst dem 124 D mit den Jahren ein immer flotteres Image, auf den Especial 1600 mit 95 PS folgt 1976 der Especial 1800 mit 114 PS. Die Krönung des ,Wolfs im Schafpelz" ist schließlich unser Especial 2000. Auch er leistet 114 PS, bietet aber dank 1.920 Kubikzentimeter Hubraum etwas mehr Drehmoment. Auf seine alten Tage wird der 124 zum heißen Sportgerät, die 1800er-Version schafft es bei der Rallye Monte Carlo 1977 sogar auf die Plätze drei und vier. Insgesamt sammelt die kräftige Kante sechs Titel in der spanischen Rallyemeisterschaft und erringt drei Gesamtsiege bei EM-Rallyeläufen.
Gib Stoff!
Wie faustdick es der Seat 124 D Especial 2000 hinter seinen Ecken hat, merken wir schon auf den ersten Kilometern. 11,2 Sekunden von null auf 100 km/h mögen heute im Quartett keinen Stich mehr machen. Doch in der Realität bedeutet das: Spaß. Verdammt viel Spaß. Kein Wunder, treffen die 114 PS doch auf gerade einmal 970 Kilogramm. So gelingt es uns, an deutlich stärkeren Sportwagen dranzubleiben. Dazu trägt auch das Fahrwerk des Hecktrieblers bei. Die anfangs belächelten 13-Zöller sorgen für eine tolle Straßenlage, der Super-Seat saugt die Kurven förmlich in sich auf. Auf gut 1.600 Meter Höhe dann die böse Überraschung: In Liechtenstein mag der 124er nicht mehr anspringen, der Öldruck ist flöten gegangen. Kein Problem für unsere katalanischen Mechaniker, als der Wagen wieder läuft, erteilt Senor Lopez einen Befehl: Gebt Gas! Nun gut, es gibt Schlimmeres, aber ist unser Dienstwagen nicht sehr selten und außerdem mit hohem Aufwand restauriert worden? Kein Problem für die Mannen aus Barcelona, ab sofort halten wir den Motor bei jedem Stopp mit Gasstößen bei Laune.
Der kommunistische Klassiker
Laune machte der Seat 124 seinerzeit auch den Spaniern: Zwischen 1968 und 1980 wurden rund 900.000 Fahrzeuge produziert. Keine geringe Menge und doch nur ein Bruchteil dessen, was das wohl bekannteste Derivat des Fiat 124 vorzuweisen hat: der Lada. Ähnlich wie gut 20 Jahre zuvor in Spanien will auch die Sowjetunion ihr Volk motorisieren. Man ist sich schnell mit Fiat einig, da in Italien die Kommunisten einigen Einfluss haben. Ab 1966 wird in Stawropol an der Wolga ein gigantisches Autowerk aus dem Boden gestampft, die Stadt erhält den Namen des verstorbenen italienischen Kommunistenführers Togliatti. Das passende Produkt für die insgesamt 270 Kilometer langen Fertigungsstraßen ist schnell gefunden: der neue Fiat 124. Allerdings werden Limousine und Kombi noch umfangreich für die sowjetischen Verhältnisse mit wechselnden Klimazonen, nicht immer optimalem Sprit und meist rudimentären Straßen angepasst. Nicht zuletzt muss die Technik einfach und robust sein, denn im größten Land der Erde kann es nicht in jedem Ort eine Markenwerkstatt geben. Gesagt, getan: Kupplung, Hinterachse und Karosserie werden verstärkt und die Bodenfreiheit um 30 Millimeter erhöht. Statt eines Zahnriemens kommt eine Steuerkette zum Zug, außerdem ist das 60-PS-Aggregat kurzhubiger ausgelegt. Ab 1971 laufen schließlich die ersten VAZ-2101 vom Band, die im Sowjetreich als ,Shiguli" bekannt werden und im Ausland ,Lada" heißen. Schon Ende 1973 entsteht das einmillionste Fahrzeug. Für Fiat erweist sich der Deal indes als gefährlicher Bumerang: Die Russen liefern im Gegenzug Recyclingstahl, der die Modelle aus dem Fiat-Konzern in den 1970er-Jahren zu wahren Rostbomben macht. Doch zwischen Riga und Wladiwostok wird der ,Shiguli" zum Millionenseller und Objekt so mancher Hassliebe. 1980 startet der Lada 2105 mit Rechteckscheinwerfern, die eine gewisse Ähnlichkeit zu denen des Seat haben und in unserem Fall zu mancher Verwechslung führen. Selbst im neuen Jahrtausend erfreuen sich der 2105 und sein edlerer Bruder namens 2107 noch großer Beliebtheit, denn er ist preiswert und robust. Erst 2012, also 41 Jahre nach Produktionsstart, ist für den Oldie in Russland Schluss. Die letzten von unfassbaren 17,5 Millionen Exemplaren rollen von den Bändern. Aber der klassische Lada ist nicht totzukriegen: In Ägypten wird er immer noch weitergebaut.
Vom Bosporus bis nach Korea
Wie aufregend die Geschichte des vergessenen Millionärs namens 124 ist, zeigen die weiteren Etappen seiner Reise um die Welt. Von 1966 bis 1968 entstehen 300 Exemplare in Bulgarien bei Pinin-Fiat, auf 18.979 Stück bringt es zwischen 1967 und 1972 die deutsche 124-Fertigung bei NSU-Fiat. Sogar nach Südkorea schafft es der beliebte Biedermann aus Italien. Von 1970 bis 1975 läuft der 124 hier als Asia-Fiat vom Band, ein Jahr später übernimmt dort Kia das Ruder. In der Türkei baut Tofas-Fiat ab 1971 den ,Murat", mit Unterbrechnungen läuft der später liebevoll ,Serçe" (Spatz) genannte Wagen bis 1995 am Bosporus vom Band.
Comeback in Indien
Und auch für den Seat 124 ist die Geschichte mit dem Ende der Fertigung 1980 noch nicht vorbei. Optisch kaum verändert, erlebt die Limousine ein Comeback in Indien. Hier wird er zum Premier 118 NE und bekommt den Antriebsstrang des Nissan Cherry. Und es kommt eine Neuerung, die es für den ursprünglichen Fiat 124 nie gab: Ein Dieselmotor im Premier 137D. Damit hält sich der indische Vetter bis 2001. Betrachtet man die gesamten Stückzahlen der Fiat 124 Limousine und ihrer optisch kaum veränderten Derivate, erscheint es umso erstaunlicher, dass dieser Welterfolg in der Literatur kaum Erwähnung findet. Auch exakte Produktionsziffern sind Mangelware, doch unter dem Strich sind es in etwa 20 Millionen Fahrzeuge. Damit liegt der Fiat 124 in der Hitliste der meistgebauten Autos ohne gravierende Änderungen zwar hinter dem VW Käfer, aber weit vor dem T-Modell von Ford. Wenn das der kleine Bub wüsste! Jetzt sagen wir einfach ,Boah!".